Wir haben Ruanda nach dem Völkermord von 1994 besucht. Wenn wir mit anderen über unsere Reisepläne gesprochen haben, sorgte das für einiges Aufsehen. Oft wurden wir gefragt: „Aber was ist mit den Völkermord? Ist das nicht gefährlich?“
Von außen betrachtet, ist das eine berechtigte Frage. Bei unseren Reisen durch Länder, die von Unruhen und Gewalt erschüttert wurden, haben wir jedoch die Erfahrung gemacht, dass Gesellschaften, Menschen und Kulturen nicht statisch sind – gerade im Angesicht von entsetzlichen Ereignissen und oft als Reaktion darauf können sie sich völlig neu erfinden.
Ruanda ist so ein Land, das die Chance genutzt hat, sich nach der schwärzesten Stunde seiner Geschichte neu zu erfinden. Besucher des Landes werden eine Überraschung nach der anderen erleben – manchmal in Form kleiner Details, manchmal in Form weitreichender politischer Entscheidungen.
Hier ist ein kleiner Einblick darin, was wir auf unserer Reise in Ruanda Wissenswertes und Überraschendes entdeckt haben.
Ruanda: Die Schweiz oder das Singapur Afrikas?
Zunächst hat uns in Ruanda erstaunt, wie sauber, ruhig und organisiert alles wirkte, von den Straßen bis zu den Märkten. Nachdem wir die Wochen zuvor im chaotischen und lauten Uganda verbracht hatten, fühlte es sich an, als wären wir in die Schweiz oder das Singapur Afrikas gereist.
Das Leben in Ruanda verläuft gemächlicher und bewusster. Es gibt nicht nur Regeln, sondern diese scheinen auch tatsächlich befolgt, respektiert und durchgesetzt zu werden. Das Außergewöhnlichste war noch nicht mal, dass die Motorradtaxis in Ruanda mit zwei Helmen ausgestattet waren – einen für den Fahrer, einen für den Fahrgast –, sondern dass die Helme tatsächlich benutzt wurden, was in anderen Ländern Ostafrikas, die wir besucht haben, unvorstellbar ist.
Zugegeben, das ist ein völlig anderes Bild von Ruanda als jenes, mit dem wir in das Land gekommen sind. Diese Organisation und Ordnung überrascht die meisten, denen wir davon erzählen. Doch in unseren Gesprächen mit Ruandern und Ausländern, die hier leben, begannen wir, den Sinn dahinter zu erkennen. Denn nach dem Völkermord brauchte das Land nichts so sehr wie ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität. Wie sollten die Menschen sonst in der Lage sein, weiterzumachen und das Land wieder aufzubauen?
Heute sind Ordnung und Organisation bestimmende Merkmale der Identität des Landes und seines Lebensgefühls im 21. Jahrhundert.
Das erste Land, das Plastiktüten verboten hat
Bevor wir in den Bus von Uganda in die ruandische Hauptstadt Kigali stiegen, warnten uns andere Reisende: „Nehmt keine Plastiktüten mit. Die nehmen sie euch an der Grenze weg.“
Wir dachten, die machen Witze.
Wir haben bereits so einige Grenzen überquert und Grenzkontrollen erlebt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Grenzschutzbeamte dein Gepäck bei der Einreise nach Dingen wie Alkohol, Drogen und verbotenen Lebensmitteln durchsuchen. Die ruandischen Beamten konzentrierten sich dagegen auf die Jagd nach Plastiktüten. Und sie meinten es ernst.
Wenn eine Grenzbeamtin eine Plastiktüte mit einem Snack oder Schmutzwäsche in unserem Rucksack fand, forderte sie uns auf, den Inhalt herauszunehmen und ihr die Tüte zur Entsorgung zu übergeben. Das war eine ungewöhnliche Erfahrung und auch ein wenig unpraktisch, aber wir leisteten ihren Anweisungen gerne Folge, vor allem als wir begriffen, dass Ruanda diese Maßnahmen ergreift, um die von weggeworfenen Plastiktüten übersäten Landstriche zu verhindern, die es in so vielen anderen Entwicklungsländern gibt. Plastikeimer statt Plastiktüten heißt es in Ruanda.
Ruanda war 2006 das erste Land der Welt, das Plastiktüten verboten hat. Der Effekt ist augenscheinlich: Das Land und die Städte sind erstaunlich und erfreulich sauber und frei von Plasttüten. Es ist wirklich ein toller Anblick. Dieses landesweite Verbot von Plastiktüten ist etwas, das der Rest der Welt sich gerne zum Vorbild nehmen und nachmachen könnte.
Die Landessprache: Von Französisch zu Englisch über Nacht
Wenn ich in Ruanda jemanden ansprechen oder eine Frage stellen wollte, begann ich gewöhnlich mit: „Parlez - vous français? Do you speak English?“ Die älteren Bewohner Ruandas antworteten mir oft auf Französisch, die jüngeren auf Englisch. Dafür gibt es einen Grund.
Die Sprache, in der sich die meisten Ruander untereinander verständigen, heißt Kinyarwanda. Als ehemalige belgische Kolonie war Ruanda jedoch auch frankophon und Französisch war die Sprache in Bildung, Wirtschaft und Verwaltung. In den 1990er Jahren, nach dem Völkermord, kam Englisch als dritte Amtssprache hinzu, doch Französisch blieb die Sprache in Klassenzimmern und Schulen.
Doch 2008 erklärte die Regierung über Nacht Englisch zur offiziellen Schulsprache. Mit einem Federstrich wurde das gesamte Bildungssystem des Landes umgestellt, einfach so.
Was war der Grund dafür? Englisch ist wohl die universellere Geschäftssprache und Ruanda ist von englischsprachigen Nachbarländern umgeben. Eine gemeinsame Sprache fördert den Handel und Austausch in Afrika ebenso wie mit dem Rest der Welt. Zudem möchte sich das Land als Technologie - und IT - Zentrum positionieren, und in diesem Wettbewerbsumfeld ist Englisch die dominierende Sprache.
Eine Zeit lang führte das zu Sprachverwirrungen in den Schulen, da es an ausgebildeten Englischlehrern mangelte. Wir haben jedoch erlebt, dass viele junge Menschen in Ruanda Englisch schnell erlernen. Mit der Zeit wird sich das Sprachniveau im ganzen Land verbessern. Bis dahin lohnt es sich, vor der Reise die Französischkenntnisse aufzufrischen.
Ruandas monatlicher Tag der ehrenamtlichen sozialen Tätigkeit
Jeden Monat gibt es für alle Ruander einen Tag des obligatorischen Dienstes an der Gemeinschaft, der Umaganda genannt wird („Beitrag“ in Kinyarwanda). An diesem Tag kommen Menschen zusammen, um bei öffentlichen Projekten wie der Renovierung von Schulen, Straßenreinigung, öffentlichem Wohnungsbau und sonstigen gemeinschaftlichen Unternehmungen mitzuhelfen. Wer sich am Umaganda nicht beteiligt, riskiert eine Geldstrafe.
Diese Tage der sozialen Tätigkeit tragen nicht nur zu Sauberkeit und Ordnung im Land bei, sondern sollen auch Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft und allen sozioökonomischen Gruppen zusammenbringen, um gemeinsam an öffentlichen Projekten zu arbeiten. Das Ziel ist, seine Nachbarn und Vertreter des Staates besser kennenzulernen und eine Verbindung zu ihnen aufzubauen.
Stell dir mal vor, was passieren würde, wenn deine Gemeinde einen Tag der ehrenamtlichen Tätigkeit für das allgemeine Wohl einführen würde. Würde das überhaupt funktionieren?
Die jährliche Taufzeremonie für neugeborene Gorillas
Die meisten Reisenden besuchen Ruanda wegen der wilden Berggorillas im Vulkan - Nationalpark. Dies ist eine der wenigen Erfolgsgeschichten, bei denen staatliche Maßnahmen wohl tatsächlich dazu beigetragen haben, dass die Population einer vom Aussterben bedrohten Tierart sich wieder erholt hat. Seit 2003 gibt es über 26 % mehr Berggorillas, trotz der weiterhin bestehenden Herausforderungen durch Wilderer und Unruhen in der Region.
Ruanda feiert seine neugeborenen Gorillababys jedes Jahr mit einer offiziellen Taufzeremonie, die kwita izina genannt wird und in deren Rahmen ausgewählte Einheimische und ausländische Gäste allen im Vorjahr geborenen Gorillas Namen geben. Die Wurzeln dieser Zeremonie gehen darauf zurück, wie in Ruanda traditionell menschliche Babys ihren Namen erhalten haben. Und sie wurde eingeführt, um die Tiere zu ehren und die allgemeine Unterstützung für die Bemühungen zu ihrem Schutz zu demonstrieren.
Jetzt kommt die große Frage: Welchen Namen würdest du einem Gorillababy geben?
Beim Reisen geht es darum, ganz persönlich Land und Leute hinter der vielschichtigen Geschichte und Kultur deines Reiseziels kennenzulernen. In Ruanda war das nicht anders.
Ein Reisebericht von Daniel Noll und Audrey Scott
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