Die meisten Städte in Marokko haben eine Menge Geschichten zu erzählen, aber nur wenige haben einen solch freizügigen Ruf wie die alte Hafenstadt Tanger.
Tanger ist eine Stadt voller Mythen. Der klassischen Mythologie zufolge befand sich hier eine der Säulen Herakles‘, die das Ende der bekannten Welt markierten, hinter dem der versunkene Kontinent Atlantis lag. Die Stadt liegt an der Meerenge zwischen Afrika und Europa und die enge Verbindung zwischen den beiden Kontinenten ist vermutlich auch für den ungewöhnlichsten Abschnitt in ihrer Geschichte verantwortlich.
Als die europäischen Kolonialmächte Afrika unter sich aufteilten, wurde die Stadt Tanger aufgrund ihrer großen strategischen Bedeutung zu einem Freihafen gemacht. Marokko konnte nur zusehen, wie Großbritannien, Frankreich, die USA und eine Reihe anderer Länder einen Sitz in dem Rat beanspruchten, der über Tanger regierte und sich einen Großteil der Reichtümer der Stadt unter den Nagel riss. Selbst Schweden mischte dabei eifrig mit.
Während des Kriegs war Tanger ein Brennpunkt internationaler Intrigen. Agentennetzwerke der Alliierten und der Achsenmächte spionierten einander tagsüber aus und trafen sich abends beim Cocktail. Heute können Besucher der Stadt einige der alten Schauplätze dieses Spionagekriegs besuchen, etwa Caid‘s Bar im Hotel El Minzah, angeblich das Vorbild für Rick‘s Bar im Filmklassiker Casablanca.
Richtig los ging die Party dann in den 1950er Jahren, als die „Alles geht“ - Atmosphäre in Tanger Künstler und Schriftsteller in die Stadt lockte. Bei einer Tasse Kaffee im Gran Café de Paris auf dem Place de France, einem einst beliebten literarischen Salon im Art - Déco - Stil, kannst du dir lebhaft vorstellen, am Nebentisch einer Unterhaltung zwischen Truman Capote und Tennessee Williams oder dem lange Jahre in Tanger lebenden Paul Bowles, Autor von Himmel über der Wüste zu lauschen. Von dort kannst du zum kürzlich renovierten Grand Hôtel Villa de France spazieren, wo der Maler Matisse gewohnt hat. Sein Lieblingszimmer (Nr. 35) wurde im Originalzustand aus seinen Tagen erhalten, wobei die aktuellen Besitzer jedoch zumindest eine moderne Toilette eingebaut haben.
Wenn dir der Sinn nicht so sehr nach hoher Kunst steht, kannst du dich auch in die Medina stürzen auf der Suche nach dem prallen Leben. Heute schlürfen Touristen Minztee in den Cafés am Platz Petit Socco, doch vor 50 Jahren ist hier William Burroughs herumgehangen auf der Suche nach harten Drogen und billigem Sex, bevor er dann in das Muniria Hotel (das es auch heute noch gibt) weitergezogen ist, um sein surreales Meisterwerk Naked Lunch zu schreiben, in dem er die zwielichtige Internationale Zone in Tanger in die noch dubiosere fiktionale Interzone verwandelte. Allen Ginsberg und Jack Kerouac, die beiden berühmten Autoren der Beat - Generation, besuchten beide Burroughs in Tanger und abends kannst du ihre Geister in der Bar Le Tangerine aufleben lassen, einst eine der Lieblingskneipen der Autoren und heute ein Treffpunkt örtlicher Hipster.
Im Vergleich zu Tanger, schrieb ein Autor 1950, „war Sodom ein Kirchenpicknick und Gomorrha ein Pfadfinderinnentreffen“. Als die Stadt 1956 schließlich ein Teil Marokkos wurde, wurde stärker auf die Wahrung der Moral geachtet, doch die Stadt zog dennoch zahlreiche ausländische Besucher an, von stylischen Vertretern des internationalen Jetsets bis zu schwulen Briten in der Zeit, bevor die Homosexualität in ihrer Heimat entkriminalisiert wurde. Die Rolling Stones waren Fans der Stadt und Brian Jones war ein regelmäßiger Besucher, der hier die Trance - Rhythmen traditioneller marokkanischer Musik aufnahm.
Die Party endete schließlich in den 1960er Jahren, als im Zuge des „Großen Skandals“ rigoros gegen Bordelle und die Schwulenszene vorgegangen wurde und zahlreiche Ausländer des Landes verwiesen oder verhaftet wurden. Der Verkauf von Alkohol wurde in der Medina verboten und die marokkanischen Moralvorstellungen wurden in Tanger durchgesetzt. Immerhin war es nun ja eine marokkanische Stadt.
Das heutige Tanger hat den Blick fest in die Zukunft gerichtet, mit einem der größten und modernsten Häfen in Afrika und einer im Bau befindlichen Hochgeschwindigkeits - bahnstrecke nach Casablanca. Hinter den Kulissen kannst du jedoch immer noch Spuren der anrüchigeren Geschichte der Stadt entdecken.
Ein Reisebericht von Paul Clammer