Das Land kann überwältigend sein. Sich einfach einmal hinzusetzen und alles abzuschirmen kann sehr hilfreich sein - auch wenn du dies nicht für deinen Tag eingeplant hattest.
Es war meine vierte Woche auf Reisen, als ich vom Indien - Schock überwältigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt weicht der Glanz des faszinierendsten Landes der Erde dem Smog, den Menschenmassen, dem verschmutzten Wasser, den Schwindlern, dem endlosen Verkehr und einer Kluft zwischen Arm und Reich, die so groß war, dass selbst Hanuman nicht darüber springen könnte.
Ich lag in der heiligen Küstenstadt Gokarna am ruhigen Kudle Beach. Gokarna ist eine beschauliche Stadt südlich des vom Tourismus geprägten Goa, übersät mit Stränden und Tempeln und so idyllisch wie es ein Reiseziel nur sein kann. Doch ich wollte hier einfach nur weg.
Was ich brauchte, auch wenn ich es zu jenem Zeitpunkt nicht wusste, war eine Höhle. Eine heilige Höhle. Und eingebettet in Gokarnas mandarinfarbene Bergausläufer befindet sich eine, die Shiva, dem hinduistischen Gott der Zerstörung, gewidmet ist. Die Einheimischen sagen, dass die Shiva - Höhle sehr heilig und sehr alt ist und dass sie seit Jahrtausenden Pilger, Heilige und Menschen aus dem ganzen Subkontinent auf der Suche nach Erleuchtung anzieht.
Ich weiß nicht, wie viel davon wahr ist, aber was ich weiß, ist, dass man vor dem Betreten einer heiligen Höhle wahrscheinlich einen Gefährten braucht und ich hatte den perfekten Kandidaten mit Han, einem einheimischen Reisenden aus dem benachbarten Kerala. Han, der in meiner Pension wohnte, war etwas durchgeknallt; er war entweder ein aufstrebender Prophet oder eine lebende Karikatur von einem.
Ich suchte nach seinem charakteristischen Kopftuch, seinem Bart und seiner Sonnenbrille und fand ihn am Strand stehend, häuptlingshaft auf das Meer hinausblickend. Wahrscheinlich kontemplierte er gerade die Unendlichkeit. Dann fragte ich ihn, ob er mich in die Shiva - Höhle begleiten wolle, und, naja, Han würde nie eine Gelegenheit auslassen, um mit der heiligen Einheit der Welt besser in Verbindung zu treten.
„Ich denke immer, dass ich im Grunde genommen Nichts bin", ist ein typischer Satz, den Han äußert. „Ich betrachte mir diese Welt und denke: wie kann ich im Vergleich dazu Irgendetwas sein?“
Den losen Anweisungen eines anderen Reisenden folgend, machten sich Han und ich über den Strand auf den Weg zu den nahe gelegenen Steinhügeln. Uns wurde gesagt, wir sollten eine zerfetzte Flagge suchen, der einzige Hinweis dafür, dass sich in der Umgebung möglicherweise ein Ort von Interesse befindet. Wie viele andere Orte in Indien ist auch die Shiva - Höhle einfach da, völlig unausgeschildert, und wartet darauf, von jemandem entdeckt zu werden.
Zuerst glaubte ich nicht, dass wir es vor Einbruch der Dunkelheit schaffen würden, denn Han – naja, sagen wir mal, er hat es nicht eilig. Er ist ein Typ, der innehält, um Muscheln zu bewundern, oder sich streunenden Hunden nähert, um sich mit ihnen im Geist zu verbinden, oder jedes Mal seine Arme vor Freude in die Höhe wirft, wenn er eine Kuh sieht. Und in Indien gibt es viele Kühe.
Aber selbst im Han'schen Tempo schafften wir es bis zum kahlen Fahnenmast, der die Shiva - Höhle markierte. In der Nähe meditierte ein Sadhu – ein wandernder spiritueller Seelensucher – auf dem Höhleneingang in seiner Safranrobe.
Sadhus sind in Indien alltäglich, aber ich finde sie immer noch faszinierend. Es ist für mich surreal, dass es ein Land gibt, in dem es als respektabel gilt, alle weltlichen Ambitionen aufzugeben, sie eine Robe anzuziehen und einfach die Welt zu durchstreifen, auf der Suche nach Erleuchtung. Manchmal denke ich, dass wir im Westen rückständig sind, weil wir Menschen verachten, die nicht nach materiellem Erfolg streben.
Wie viele religiöse Figuren können Sadhus kontrovers sein. Viele von ihnen sind echte Wahrheitssuchende, aber einige von ihnen suchen nur nach Almosen, also muss man in ihrer Nähe vorsichtig sein. Ich hatte jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Han näherte sich dem Sadhu und ich folgte ihm.
Wir unterhielten uns sofort über das Thema Spiritualität. Dieses Phänomen passiert einem überall in Indien. Erst feilschst du mit deinem Rikscha - Fahrer, kurz darauf sinnierst du mit ihm über das Wesen der Reinkarnation. Wir sprachen darüber, weshalb unerwünschte Dinge passieren, und in diesem Punkt waren wir uns grundsätzlich einig. Das Unerwünschte tritt nur dann ein, wenn auch das Wollen vorhanden ist – mit anderen Worten; kein Wollen, keine Unerwünschtheit.
Der Sadhu erzählte uns, wie schwierig sein Weg zunächst war, ohne Heimat und ohne Geld, aber er sagte, dass er jetzt ein Leben voller Zufriedenheit führt, bei dem er nichts von Bedeutung zu verlieren hat.
Dann kam die wichtige Frage.
„Habt ihr Ganja?“ fragte der Sadhu, woraufhin Han – keineswegs überraschend – mit Ja antwortete.
Han zog eine kleine Tasche heraus und der heilige Mann holte eine kleine Chillumpfeife hervor, mit der Sadhus am liebsten rauchen. Denn obwohl Ganja in Indien eine streng regulierte Droge ist, rauchen Sadhus sie häufig, und die Polizei ignoriert sie im Allgemeinen.
Wir rauchten die Pfeife gemeinsam und beobachteten den Sonnenuntergang. Der saphirblaue Ozean war von unserem Sitzplatz oberhalb des Höhleneingangs aus sichtbar, ebenso wie das Grün des uns umgebenden Dschungels, und ich war ein wenig verlegen, dass es mir aufgrund meiner jüngsten Frustration über Indien nicht aufgefallen war, wie friedlich und angenehm Gokarna tatsächlich war.
Der Sadhu sprach darüber, wie Ganja bei der Meditation hilft (und das tut es, sagte er, sofern man nicht zu viel raucht), woraufhin er beschloss, dass es Zeit für uns alle war, gemeinsam zu meditieren.
Wir gingen zum Höhleneingang und zogen unser Schuhwerk aus, wie dies vor einem Tempel in Indien üblich ist. Im Inneren der Höhle gab es nicht viel zu sehen:
Nur eine modrige Haupthöhle, abgetragen und dunkel, mit mehreren abzweigenden kleinen Höhlenkammern. An einem Ende befand sich, hinter einigen spärlichen Opfergaben, eine Nische mit einer kleinen Shiva - Statue.
Der Sadhu zündete Kerzen und Räucherstäbchen an. Wir nahmen Meditationsstellungen ein und er begann seine Lektion. Er forderte uns auf, in das Unterbewusstsein einzutauchen und aufzuhören, unseren Intellekt zu nutzen.
Als wir in der Dunkelheit saßen, hörte ich ein Flattern, dann noch eines. Fledermäuse. In der Höhle wimmelte es von ihnen. Meditieren ist oftmals schwierig, aber ich fand es umso schwieriger, wenn man es versteckt in einer dunklen, fledermausgefüllten Höhle tat, begleitet von einem seltsamen Wanderer unbekannter Herkunft.
Ich dachte daran, dass ich mich zu Hause, in Kanada, nie in irgendeine Höhle wagen würde, wenn mich ein Obdachloser, den ich soeben kennengelernt hatte, dazu auffordern würde. Aber anstatt mich von meinen Gedanken ablenken zu lassen, wandte ich mich wieder dem sanften Gefühl meiner Atmung zu. Ich entspannte mich in eine Art Meditation und entwickelte ein konzentriertes Desinteresse an meinen flüchtigen Gedanken.
Während ich still dasaß, spürte ich plötzlich eine Welle der Ehrfurcht, die den Raum erfüllte. Nach und nach spürte ich, dass die Höhle sehr alt war. Das Geräusch der Flügel der Fledermäuse, die durch die Dunkelheit der Höhle navigierten, war eher friedlich als unruhig oder störend. Sie waren wahrscheinlich schon in dieser Höhle gewesen, als die Menschen zum ersten Mal auf sie gestoßen waren und trugen zur Mystik dieses Ortes bei.
Ich habe im Laufe meines Lebens viele heilige Stätten besucht – Kathedralen, Tempel, Moscheen – einige von ihnen von überirdischer Schönheit. Aber keine fühlte sich so echt und so heilig an, wie die Shiva - Höhle an diesem Tag. Sie ist ein Ort, der nichts gekostet hat, um ihn zu erbauen oder zu erhalten, ein Ort, der nicht als heilig angesehen wird, weil er prunkvoll oder gar schön ist, sondern einfach nur, weil er existiert.
Schließlich verließen Han und ich die Höhle und den Sadhu. Wir wanderten zurück zum Höhleneingang und betrachteten den Nachthimmel. Ein Gewitter näherte sich und Blitze erleuchteten die Dunkelheit. Han, nicht imstande, sein Selbstbewusstsein zu kontrollieren, streckte seine Arme gen Himmel und blickte ehrfürchtig nach oben.
So ist es, wenn man durch Indien reist. Genau dann, wenn du denkst, dass du bereit bist, in die sterile Banalität der Heimat zurückzukehren, gibt dir dieses Land einen völlig neuen Grund, es erneut zu lieben. Ich bin froh, dass ich Han getroffen habe. Ich bin froh, dass ich den Sadhu getroffen habe. Und ich bin froh, dass ich einen Abend lang in einer mit Fledermäusen gefüllten Höhle meditiert habe. Worüber war ich eigentlich so gestresst gewesen? Letztendlich bin ich, im Grunde genommen, Nichts.
Ein Reisebericht von Jon Sufrin