Unser Bootsfahrer paddelt langsam auf sie zu, um sie sich näher anzusehen. Sie starren uns an und rühren sich nicht von der Stelle. Das regungslose Wesen ist nur wenige Meter von uns entfernt, und wir können es in seiner Gänze betrachten – seine murmelartigen braunen Augen, die kantigen, langgestreckten Kiefer, die wulstige Schnauze und den schuppigen olivfarbenen Rücken.
Von unserem hölzernen Einbaum aus beobachten wir schweigend, wie der Gharial langsam durch das Wasser gleitet – direkt auf uns zu. Jeder in der Gruppe zieht die mit Smartphones und Kameras bewaffneten Hände zurück ins sichere Kanu. Mein Herz schlägt immer schneller, aber bevor ich in Panik ausbrechen kann, gibt unser einheimischer Guide Siddhartha dem Fahrer das Signal, weiterzupaddeln. Wir lassen den Gharial in Ruhe, und er lässt uns glücklicherweise noch einmal davonkommen.
Die Wasserwelt
Beim Morgengrauen treiben wir auf dem Östlichen Rapti in Chitwan, der Tiefebene Terai im südlichen Nepal. Wie vor Sonnenaufgang üblich ist am Himmel ein sanftes Leuchten zu sehen: goldorange am Horizont, saphirblau, wo die Sonne noch nicht hingelangt. Leichter Nebel hängt tief über der spiegelglatten Wasseroberfläche, Vögel gleiten über unsere Köpfe.
Dieser Teil von Nepal ist eine ganz andere Welt als der Himalaya und die belebten Straßen von Kathmandu. Die Region wird als Terai (feuchtes Land) bezeichnet, und die Landschaft in Chitwan am Fuße des Himalaya ist ein Band aus sumpfigen Wiesen, Savannen und Wäldern. Es ist heiß und schwül; die Temperaturen und die entspannte Stimmung lassen eher an Indien denken als an Nepal.
Die Heimat des engsten Verwandten der Dinosaurier
Hier ist einer der wenigen Orte auf der Welt, wo der Gharial noch lebt. Dieses Tier (auch als „Gavial“ bekannt) gehört zu den Krokodilen, und man erkennt es an den extrem langen, dünnen Kiefern mit messerscharfen Zähnen und der wulstigen Schnauze.
Der Gharial ist auch der engste noch lebende Verwandte der Dinosaurier, aber leider gilt die Art wegen des Verlusts ihrer natürlichen Lebensräume als stark bedroht. Glücklicherweise hat sie sich ein wenig erholt, und die Hoffnung ruht nun auf den Arterhaltungs - und Schutzprogrammen, die ins Leben gerufen wurden. Derzeit wird die Gesamtpopulation (wild und in Gefangenschaft lebend) auf weniger als 1000 Tiere geschätzt.
Der Rapti schlängelt sich durch den Chitwan - Nationalpark und bildet eine natürliche Grenze zwischen den Dörfern zu seiner Rechten und dem Schutzgebiet zu seiner Linken. Nur der Fluss trennt die Dorfbewohner von den Tieren, die in dem Park leben. Unser Guide Siddhartha erzählt uns, dass die Menschen weiterhin am Fluss leben wollen, weil sie sich dort mit Wasser versorgen können – dafür gehen sie das Risiko ein, von Tieren angefallen zu werden.
Paradiesvögel finden
Zurück auf dem Fluss wird die Ruhe von Entenquaken und Vogelzwitschern durchbrochen. Siddhartha zeigt auf zwei Enten mit braunen Federn am Flussufer. „Das sind sibirische Enten.“ Sie fliegen weg, bevor ich ein gutes Foto von ihnen machen kann. Dank jahrelanger Erfahrung in der Vogelbeobachtung hat Siddhartha Adleraugen, ihm entgeht keine Bewegung. Bevor ich ihm eine Frage stellen kann, dreht er sich schnell um und sagt: „Seht mal! Da ist der Braunliest. Hier gibt es sieben verschiedene Arten von Eisvögeln.“
Alle möglichen Vogelarten sind in dieser Gegend beheimatet, darunter Reiher und Kormorane. Als wir uns dem Ende unserer Reise auf dem Fluss nähern, beobachten wir einen Schwarm schwarzer Kormorane im Fressrausch – sie fangen einen Fisch nach dem anderen.
Das schwer zu entdeckende Nashorn aufspüren
An diesem Abend lassen wir die Wasserwelt hinter uns und dringen auf der Suche nach dem gefährdeten Panzernashorn weiter in den Chitwan - Nationalpark vor.
Weil Jagen und Wildern weit verbreitet war, schrumpfte die Nashornpopulation am Ende der 1960er - Jahre von tausenden auf erschütternde 95 Tiere zusammen. Um die Art vor der Ausrottung zu bewahren, richtete die nepalesische Regierung 1973 den Chitwan - Nationalpark ein. Die gemeinsamen Bemühungen der nepalesischen Regierung und des World Wide Fund for Nature (WWF) zur Erhaltung der gefährdeten Art waren erfolgreich. Derzeit sollen etwa 500 Panzernashörner im Chitwan - Nationalpark leben.
Nun, da die letzten Sonnenstrahlen in der Ferne schwächer werden, läuft uns langsam die Zeit davon. Stundenlang haben wir uns in einem rostigen Jeep mit offenem Dach einen Weg durch den dichten Dschungel gebahnt. Siddhartha hat wieder die Führung übernommen. Weil er hier im Terai - Tal aufgewachsen ist, kennt er die Wälder wie seine Westentasche. Heute bringt er uns zu Orten, an denen die Nashörner gerne grasen.
„Keine Sorge, sie werden schon kommen“, versichert er mir. „Sie kommen immer.“
Wir sehen ihnen beeindruckt zu, aber nach ein paar Minuten ist das Frühstück vorbei, und hunderte von ihnen erheben sich als ein Schwarm in die Luft. Der Anblick ist atemberaubend.
Wir drehen einige Runden durch den Wald und entdecken Affen, Schlangen und Eidechsen, aber kein Nashorn ist in Sicht. Als wir gerade aufgeben wollen, knackt Siddharthas Walkie - Talkie. Er ruft dem Fahrer auf Nepalesisch ein Kommando zu, und sofort rasen wir blitzschnell den Dschungelweg entlang und wirbeln dabei eine Staubwolke auf.
Nach nur fünf Minuten halten wir quietschend neben einem Gewirr aus Ranken, Zweigen und Büschen. Hinter dem Blattwerk bekomme ich endlich das schwer zu entdeckende Tier zu Gesicht. Ich sehe mir seinen massigen grauen Körper an, die kräftigen dicken Beine und das spitze hakenförmige Horn – alles nur wenige Meter von mir entfernt.
Das Nashorn steht ganz still da und bläht die Nüstern, um uns zu erschnüffeln. Mit seinem Panzer auf der rauen, faltigen Haut erinnert es an ein urgeschichtliches Tier. In stiller Ehrfurcht beobachtet unsere begeisterte Reisegruppe jede seiner Bewegungen. Vorerst sind die Nashörner im Schutz des Chitwan - Nationalpark sicher – aber über ihrer Zukunft schwebt weiterhin ein Fragezeichen.
Ein Reisebericht von Nellie Huang